Flucht und Vertreibung sind auch ein Kommunikationsdesaster. Was mich ein Kapitel meiner Familiengeschichte heute lehrt.

Ich besitze Feldpostbriefe meines Onkel Wola, den ich nie kennengelernt habe. Ich habe Karten der Familie an meinen Opa in russischer Gefangenenschaft und einen behelfsmäßigen Personalausweis meiner Oma von 1946. Wohnung: z.Z. Flüchtlinglager. Die alten Papiere erzählen mir nicht nur ein Stück Familiengeschichte über Galiziendeutsche*; sie beschreiben auch das Kommunikationsdesaster jener Zeit. Das bange Warten auf Nachrichten von Angehörigen. Verstörende Dokumente. Und ich schäme mich, dass ich mein ausrangiertes iPhone 4 nicht schon längst an einen Flüchtling verschenkt habe.

Meine Oma als Flüchtling 1946 in Berlin

Meine Oma als Flüchtling 1946 in Berlin

Wola

„Dieses Kind. Ich kann es noch kaum fassen. Man weiß auch gar nicht auf wie lange. Nichts.“, schreibt meine Mutter am 16. Januar 1945 an die Wiener Verwandtschaft, nachdem ihr Bruder Wola zum Volksturm im Warthegau einberufen worden war. Wola war damals 16 Jahre alt.

Feldpost aus dem Nirgendwo

Zwei mit Bleistift geschriebene Briefe sind sein letztes Lebenszeichen. Das Papier ist brüchig. Wie oft mag meine Oma diese Zeilen gelesen haben? Seine erste Nachricht vom 8. Februar 1945 gibt er einem Kameraden mit, weil dort, wo er steckt, die Post nicht befördert wird. Auch seine Anschrift hat er nicht. Aber Wola kann immerhin berichten: „Ich bin Gott sei Dank glücklich aus dem Kessel von Thorn herausgekommen. Ich will keine lange Erzählung machen, sondern euch Nachricht geben, daß ich am Leben bin.“

Etwas später funktioniert die Feldpost. Aber Wola ist bewusst, dass seine Familie aus dem Warthegau, in den sie 1939 umgesiedelt worden war, inzwischen längst evakuiert sein muss. Er schreibt am 17. Februar 1945 deshalb an die Wiener Verwandschaft: „Was ist mit Papa und Mama? Wo ist Tante Ella?“ Fünf Wochen braucht der Brief nach Österreich. Diesmal kann Wola eine Feldpostnummer angeben. Und die Verwandten schicken sofort eine Antwort. Wola hat sie nie bekommen. Er muss nur wenige Tage später gefallen sein. 1967 wird mein verschollener Onkel offiziell für tot erklärt.

Felkdpost

Die Kommunikation wird zum Desaster

Vergeblich wartet die Familie auf Wolas Rückkehr. Der Warthegau wird evakuiert. Meine Oma flieht allein mit ihrer Tochter, meiner Mutter; Opa gerät in russische Gefangenschaft. Die Familie Müller ist zerrissen. Es gibt keine Adressen und keine Kontaktmöglichkeiten mehr. Vom Ergehen des anderen weiß man: nichts.

Monatelang waren meine Oma und meine Mutter unterwegs. Mitte Februar 1946 wird meiner Oma ein behelfsmäßiger Personalausweis im Flüchtlingslager in Berlin-Wilmersdorf ausgestellt. Die Strapazen der Flucht und die Sorge um die Angehörigen stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Anfang März wird sie im Übergangslager Eisennach registriert. Dort strandeten bis September 1946 etwa 450.000 Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Heimatvertriebene.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Für meine Oma und meine Mutter endete die Vertreibung mit einem Neuanfang 1946 in Frankfurt und einer festen Adresse. Erst dort erfahren sie, dass ihr Ehemann und Vater noch lebt und in Moskau über den Postkasten 3888 des Roten Kreuzes erreichbar ist. Zeitweilig ist er schwer erkrankt. „Papuschka, verlier nicht die Hoffnung“, schreibt meine Mutter 1947 an ihren Vater. „Auch Du wirst mal unverhofft bei uns schellen“.

Bis 1951 sollte seine Rückkehr aus der Gefangenschaft dauern. Opa ist gekennzeichnet von der Gefangenschaft und der Erkrankung, aber das Leben geht weiter. Kurz nach seiner Wiederkehr wird die Hochzeit meiner Mutter gefeiert. An diesem Tag ist das Lachen zurück. (Opa Müller zweiter von links; Oma Müller zweite von rechts).

Hochzeit 1951

Wider das Kommunikationsdesaster

Umsiedlung und Vertreibung, Flucht und Neuanfang sind Teil meiner Familiengeschichte. Teilen mit Menschen in Not war bei uns nie eine Option, sondern Selbstverständlichkeit. In der kleinen Landgemeinde, in der ich jetzt wohne, kommen jede Woche neue Flüchtlinge an. Ich werde jemanden suchen, der mein ausrangiertes Smartphone braucht, damit er mit seinen Angehörigen kommunizieren kann.

Warum Handys für Flüchtlinge kein Luxus sind, sondern Grundbedürfnisse erfüllen, erklärt die Süddeutsche Zeitung.

Wie hoch der Bedarf an Kommunikationsmöglichkeiten ist, zeigen aktuell die Vorgänge in Ungarn.

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Helfen. Teilen. Spenden. Bloggen. Flagge zeigen. Es gibt viele Möglichkeiten, um Flüchtlinge willkommen zu heißen. Zum Mitmachen lädt die Aktion Blogger für Flüchtlinge ein. Danke dafür.

 

Blogger für Flüchtlinge ist eine Initiative von Nico LummaStevan PaulKarla Paul und Paul Huizing: „Wir sind ganz normale Menschen. Menschen denen nicht egal ist, wie mit anderen Menschen umgegangen wird. Menschen, die helfen wollen.“ Verwendet den Hashtag #BloggerfueFluechtlinge. Hier könnt Ihr spenden.

Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gereicht; ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt; (Mt 25,35)

* Galiziendeutsche

Meine Vorfahren mütterlicherseits waren Familien, die im 18. Jahrhundert/19. Jahrhundert ihre pfälzische Heimat verlassen haben, um in Galizien neu anzufangen.

Galizien entstand bei der Teilung Polens im 18. Jahrhundert und gehörte von 1772 bis 1918 zur Habsburger Monarchie. Es umfasste einen westlichen Teil mit der Hauptstadt Krakau, der heute zu Polen gehört; und einen östlichen Teil mit der Hauptstadt Lemberg, der heute in der Westukraine liegt.

Meine Vorfahren waren teils Nachkommen von Menschen, die im 17. Jahrhundert aufgrund ihres mennonitischen Glaubens vor Verfolgung aus der Schweiz in die Pfalz geflohen waren. Nun bauten sie auf das Ansiedlungs- und Toleranzpatent des österreichischen Kaisers Josef II aus dem Jahr 1781, mit dem er die brach liegende Landwirtschaft in Galizien voranbringen wollte, und das Toleranzdekret von 1784 für Mennoniten. Die Kolonisationspolitik eröffnete ihnen einen Ausweg aus der verarmten Pfalz und einen Neuanfang als Landwirte in Galizien und sicherte ihnen Toleranz gegenüber „Andersgläubigen“ zu.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde Galizien wieder polnisches Staatsgebiet. Bis 1939. Dann teilte der Ribbentrop-Molotow-Pakt, ein Grenz- und Freundschaftsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, Galizien neu auf und regelte die Umsiedlung der Deutschen aus den von der Sowjetunion beanspruchten Gebieten. Davon waren auch meine Großeltern und viele weitere Verwandte betroffen, die im östlichen Teil von Galizien ihre Höfe hatten. Sie emigrierten 1939 mit mehr als weiteren 50.000 Galiziendeutschen und wurden wie die meisten anderen Umsiedler im neuen Reichsgau Wartheland ansässig.

Das Ende im Warthegau kam mit der Großoffensive der Roten Armee im Januar 1945. Am 16. Januar, als mein Onkel Wola zum Volkssturm einberufen wurde, überschritt die Rote Armee die Grenze zum Wartheland und eroberte schon am nächsten Tag mit „Litzmannstadt“ (Łódź) die größte Stadt im Reichsgau Wartheland und binnen einer Woche dann fast das gesamte restliche Gaugebiet. Im extrem kalten Winter im Januar 1945 flohen die Galiziendeutschen bei Schnee und Eis, innerhalb weniger Tage, unter chaotischen Bedingungen vor den russischen Truppen, teilweise mit der Bahn, teilweise mit Pferdegespannen.

Nachtrag

UPDATE

02. Dezember 2015 Teilnahme am E-Book-Projekt „Blogger für Flüchtlinge“

Mit diesem Beitrag über Flucht und Vertreibung in meiner Familie habe ich mich am E-Book-Projekt »Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge« beteiligt. Die Erlöse aus dem Verkauf des E-Books werden an die Aktion #bloggerfuerfluechtlinge gespendet. Das E-Book ist unter anderem bei minimore für 4,99 € erhältlich. 

2 Gedanken zu „Flucht und Vertreibung sind auch ein Kommunikationsdesaster. Was mich ein Kapitel meiner Familiengeschichte heute lehrt.

  1. ich finde, dass dieser artikel uns lehren sollte, uns nicht so arrogant gegenüber fremden zu äussern. auch ich bin eine enkelin einer flüchtlingsfamilie, auch meine grossmutter musste fliehen im 2. weltkrieg. somit haben wir auch eine pflicht zu unterstützen und sollten versuchen, dass hilfsbedürtige hier eine neue heimat finden, sie nicht als mieter ablehnen etc.
    bis jetzt habe ich trotz der negativen schlagzeilen in der presse viel positives erlebt, sei es eine umarmung eines völlig fremden menschen, sei es ein dankeschön, meist das erste wort eines flüchtlings hier, seien es kinder, die ihr lachen nicht verloren haben und sich über gebrauchte spielsachdn freuen als ob es neue sind.

  2. Pingback: Bonner Linktipps vom Samstag am Sonntag: eine bunte Mischung | Bundesstadt.com

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